Interview: Adipositas bei Kindern und Jugendlichen

Die beste Prävention ist, den Alltag gesund und aktiv zu gestalten.

Seit 2009 können jährlich zwischen 20 bis 25 stark übergewichtige Kinder und Jugendliche am Adipositas-Programm der Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin teilnehmen. Wir haben uns mit Dr. Joachim Peitz und Dr. phil Kerstin Kuhnke über die häufigsten Ursachen für Adipositas unterhalten, über Folgeerkrankungen, die Rolle der Eltern bei der Prävention und über ein neues Sport-Projekt, das übergewichtige Kinder und Jugendliche langfristig beim Abnehmen unterstützen soll.

Was sind die häufigsten Ursachen für Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen?

Joachim Peitz: „Das Gleichgewicht zwischen Ernährung und Bewegung spielt eine entscheidende Rolle beim Entstehen von Übergewicht. Nehmen Kinder und Jugendliche über Lebensmittel und Getränke mehr Kalorien zu sich, als sie verbrauchen, wirkt sich das auf ihr Gewicht aus. Neben zu wenig Bewegung und Entspannung im Alltag beeinflussen auch zu viel Stress und Schlafmangel das Gewicht. Der Übergang zu Adipositas ist dabei fließend. Nur in sehr wenigen Fällen ist die Gewichtszunahme genetisch bedingt.“

Kerstin Kuhnke: „Bei Kindern mit Adipositas setzt sich häufig eine Negativspirale in Gang, oft werden aus ihnen übergewichtige Erwachsene. Manche Eltern geben ihren Babys zum Beispiel früh industriell hergestellte Folgenahrung, die zu viele Kohlenhydrate enthält, oder Fertigbreie mit überflüssigen Zusätzen. Sie wollen ihren Kindern damit natürlich nicht schaden. Ihnen ist gar nicht bewusst, dass in Babynahrung, Kinderkeksen oder Fruchtjoghurt oftmals viel zu viel Zucker steckt und das auf Dauer krank machen kann.

Joachim Peitz: „Die Werbung sorgt zusätzlich für Verwirrung – die angeblich so gesunde extra Portion Milch in einer Schokolade ist nur ein Beispiel dafür. Milch eignet sich nicht als Durstlöscher, sondern ist ein hochkalorisches Nahrungsmittel. Das gilt auch für andere Getränke. Viele Softdrinks enthalten mehr als 30 Stück Würfelzucker, das liefert genügend Energie, um einen Halbmarathon zu laufen. Smoothies oder die bei Jugendlichen so beliebten Energiedrinks sind ebenfalls wahre Zuckerbomben. Am besten für den Körper ist und bleibt Wasser.

Begünstigt ein hoher Medienkonsum das Entstehen von Übergewicht?

Kerstin Kuhnke: „Ja, durchaus. Die Lebensgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen haben sich verändert. Sie verbringen heutzutage sehr viel Zeit vorm Fernseher, Computer und Handy, sitzen daher länger still und bewegen sich meistens nicht genug. Essen aus Langeweile, zu viele Süßigkeiten und Chips zwischendurch, Fast Food und Fertiggerichte tun ein Übriges und begünstigen Übergewicht.“

Joachim Peitz: „Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Lockdown-Maßnahmen tragen ebenfalls dazu bei, dass Kinder und Jugendliche sich weniger bewegen, das sehen wir in unserer Adipositas-Sprechstunde. Homeschooling, kein Sportunterricht, fehlendes oder nur sehr eingeschränktes Herumtoben mit anderen Kindern – das sind Rahmenbedingungen, die unseren kleinen und großen Patienten das Abnehmen derzeit erschweren.“

Wie schadet Übergewicht der Gesundheit?

Kerstin Kuhnke: „Adipositas ist eine chronische Ernährungs- und Stoffwechselkrankheit. Betroffene Kinder und Jugendliche entwickeln häufig dieselben Begleit- und Folgeerkrankungen, die bei Erwachsenen auftreten. Neben Diabetes Typ 2, Herz- und Kreislauferkrankungen sowie Leberverfettung sind das unter anderem Schmerzen im Bewegungsapparat und asthmaähnliche Beschwerden bei Anstrengung.“

Joachim Peitz: „Stark übergewichtige Mädchen kommen früher, Jungen später in die Pubertät. Bei Mädchen können Regelstörungen auftreten, bei Jungen vergrößert sich die Brust. Auch die psychischen Belastungen sind enorm. Kinder und Jugendliche identifizieren sich mit Gleichaltrigen, sie möchten dazugehören. Aufgrund ihres Gewichts werden sie jedoch häufig ausgegrenzt und gemobbt. Das wirkt sich negativ auf ihre psychische Gesundheit aus, führt oftmals zur Rückzug und sozialer Isolation.“

Stellen Sie das Adipositas-Programm der Kinderklinik Sankt Augustin kurz vor…

Joachim Peitz: „Unser Adipositas-Programm setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Pro Kalenderjahr können 20-25 Kinder und Jugendliche mit starkem Übergewicht teilnehmen. Der Fokus liegt auf Diagnostik und Betreuung. Darüber hinaus möchten wir mit Physiotherapie, Sport und Elternschulung langfristig praktische Effekte erzielen. Das gelingt nur, wenn die Familien von Anfang an mit im Boot sind. Wir haben zum Beispiel eine Schulküche, wo zusammen gekocht wird. Kinder, Eltern und Geschwister erfahren mehr über eine ausgewogene Ernährung und können das Gelernte dann gemeinsam im Alltag umsetzen.“

Kerstin Kuhnke: „Mit Hilfe verhaltenstherapeutischer Maßnahmen und Methoden begleiten wir unsere kleinen und großen Patienten auch psychologisch. Dabei binden wir in Form systemischer Arbeit die Familie in den Prozess der Verhaltensänderung mit ein. Des Weiteren soll unser sport- und bewegungstherapeutisches Angebot Freude an Bewegung vermitteln und die körperliche Aktivität langsam steigern.“

Joachim Peitz: „Es gibt kein Patentrezept, aber Eltern sind Vorbilder und spielen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, das Gewicht ihrer Kinder in Balance zu halten. Sie können verhindern, dass sich aus ein bisschen Übergewicht eine Adipositas entwickelt.“

Was wünschen Sie sich, um Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen in den Griff zu bekommen?

Kerstin Kuhnke: „Es wäre toll, wenn Themen wie Ernährung und Bewegung im Schulunterricht und bei den Familien mehr Raum bekämen. Häufig besteht ein Zusammenhang zwischen übergewichtigen Kindern und ihrem sozialen Umfeld. Ich würde mir wünschen, dass sich bundesweit die Adipositas-Zentren noch stärker mit niedergelassenen Kinderärzten vernetzen. Hier in Sankt Augustin sind wir seit 2011 als Adipositas-Zentrum anerkannt und die Zusammenarbeit vor Ort klappt sehr gut.“

Joachim Peitz: „Wenn alle, die eine Jogginghose anhaben, auch laufen gehen, könnten sie viel für ihre Gesundheit tun! Gemeinsam mit dem Verein zur Förderung der Kinderklink Sankt Augustin (VFK) e.V. möchten wir ein neues Sport-Projekt für stark übergewichtige Kinder und Jugendliche aufbauen. Um bei Kursen in Sportvereinen mitzumachen, sind sie häufig noch nicht fit genug. Es besteht außerdem die Gefahr, dass andere Kinder sie wegen ihres Übergewichts hänseln und ausgrenzen.

Kerstin Kuhnke: „Damit Kinder und Jugendliche mit Adipositas sich in einem geschützten Raum austoben können, möchten wir einmal wöchentlich eine Sporthalle anmieten. Denn mit Gleichgesinnten macht es viel mehr Spaß, sich zu bewegen und das Abnehmen fällt leichter. Um unser neues Sport-Projekt finanzieren zu können, benötigen wir jährlich rund 7.000 Euro für die Miete der Halle und für die Begleitung durch eine sportwissenschaftliche Fachkraft. Wir freuen uns, wenn Sie dieses tolle Projekt mit Ihrer Spende unterstützen – jeder Euro hilft dabei!

Hier finden Sie weitere Informationen zu unserem neuen Sport-Projekt.

Außerdem gibt es auf der Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) viele Informationen und kostenlose Materialien zum Thema Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen.

BZgA-Broschüre: Tut uns gut – Übergewicht vorbeugen mit Bewegung, Ernährung und Entspannung

BZgA-Infoblatt: Was können Eltern und weitere Bezugspersonen tun, wenn Kindern wegen ihres Übergewichts stigmatisiert werden?

Auf der Homepage „Netzwerk gesund ins Leben“ finden Schwangere und junge Eltern hilfreiche Tipps rund ums Stillen und gesunde Ernährung im Säuglingsalter: https://gesund-ins-leben.de/fuer-familien