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Wie eine Familie mit einem krebskranken Kind ihren Alltag meistert.

Corina und Felix leben im Rhein-Sieg-Kreis und sind Eltern von vier Mädchen: Emily (16 Jahre), Annalena (14 Jahre), Valerie (12 Jahre) und Dorothea, die heute Geburtstag hat und zehn Jahre alt wird. Bei so einer großen Familie ist es immer eine Herausforderung, den Bedürfnissen aller Kinder gerecht zu werden. Doch als Ende 2014 bei der jüngsten Tochter ein Gehirntumor festgestellt wurde, ist das Familienleben ganz schön durcheinandergeraten. „Danach war nichts mehr so wie vorher. Die Krankheit, die Sorge um Dorothea, die Veränderungen in unserem Alltag und auch in den Beziehungen zueinander haben unser Leben komplett auf den Kopf gestellt“, erzählt Corina.

Der Hirntumor wurde operativ entfernt und Corina beschreibt die Zeit nach der ersten Chemotherapie und Bestrahlung als bis heute schwerste im Krankheitsverlauf ihrer Tochter. Dorothea hatte Probleme mit der Nahrungsaufnahme und musste künstlich ernährt werden. Da sie als Mutter ihr schwerkrankes Kind wochenlang im Krankenhaus begleitet hat, konnte sie für ihre Familie zuhause nicht mehr in vollem Umfang da sein. „Das war für ihre Schwestern sehr schwierig zu verstehen. Sie waren damals ja noch so jung und hätten mich eigentlich täglich als Bezugsperson an ihrer Seite gebraucht“, erinnert sich die heute 44-Jährige.

Felix hat seine Töchter morgens zum Kindergarten und in die Schule gebracht. Bis er abends von der Arbeit zurückkam, hat sich eine Familienhilfe um die Kinder gekümmert. Außerdem waren die Großeltern häufig vor Ort und auch andere Verwandte sind extra aus Süddeutschland angereist, um zu helfen. Freunde und Bekannte haben ebenfalls ein Netzwerk gebildet und die Familie unterstützt, wo sie nur konnten. „Trotzdem konnten all diese lieben Menschen die Mutter nicht ersetzen. Meine Frau und ich haben gespürt, wie verunsichert unsere drei Ältesten waren. Sie haben sich große Sorgen um ihre kranke Schwester gemacht, waren teilweise auch sehr verängstigt“, so der heute 47-jährige Vater.

Valerie war damals erst fünf Jahre alt. Für sie war die Zeit nach der Krebsdiagnose ihrer kleinen Schwester am schwersten: „Sie hätte mich als Mutter jeden Tag an ihrer Seite gebraucht. Aber was sollte ich denn machen? Ich musste lernen, dass ich nicht überall gleichzeitig sein konnte, die Schuldgefühle haben mich manchmal erdrückt. Doch Dorothea brauchte meine Fürsorge nun mal am meisten. Meine anderen Töchter kamen zwangsläufig zu kurz, auch wenn mein Mann als emotionale Unterstützung für sie da war“, berichtet Corina.

Emily kam erstaunlich gut damit zurecht, dass sich Abläufe und Strukturen im Familienalltag plötzlich veränderten und ihre Mutter nicht immer greifbar war. „Doch Annalena merkte man an, dass es ihr nicht so gut ging. Sie saß oft stundenlang alleine in ihrem Zimmer und hat gelesen“, beschreibt Felix das Verhalten seiner zweitältesten Tochter. Die Eltern haben immer wieder das Gespräch mit ihren Kindern gesucht, wenn sie spürten, dass etwas nicht stimmt. So halten sie es bis heute. Bei Dorothea wurde im Verlauf der letzten Jahre ein weiterer Hirntumor operativ entfernt, eine Abspaltung des ersten Tumors. Ihre letzte Chemotherapie und Bestrahlung hat sie gerade erst im März abgeschlossen, es hatte sich ein weiterer Tumor an der Wirbelsäule gebildet. „Generell haben sich die drei älteren Mädchen in all den Jahren sehr zurückgenommen, manchmal auch zu viel Rücksicht gezeigt. Mir wäre es lieber gewesen, eine von ihnen hätte sich mal lautstark beschwert“, sagt Corina.

Ihre jüngste Tochter beschreiben die Eltern als ruhiges Kind, die tapfer und mit großem Durchhaltevermögen die vielen Stationen ihrer Krankheit und Therapien durchlaufen hat. Corina: „Dorothea ist sehr kreativ, malt und bastelt gerne. Sie denkt sich die tollsten Geschichten aus und lebt manchmal in ihrer ganz eigenen Welt.“ Die Zehnjährige beschäftigt sich auch mit Themen, die für Gleichaltrige ungewöhnlich sind, zum Beispiel fragt sie ihre Eltern, wie der Tod denn so ist und was danach passiert. „Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen hat aber nicht nur mit ihrer Erkrankung zu tun, sondern auch damit, dass ihre Omi letztes Jahr gestorben ist“, erklärt Felix.

Dorotheas ernste Ader trifft durchaus auf viel Humor. Während ihre Schwestern sehnsüchtig auf den ersten Friseurtermin nach dem Lockdown warteten, meinte sie nur ganz trocken: „Wie gut, dass ich meine Haare nicht schneiden muss!“ Derzeit hat sie als Folge der letzten Chemotherapie keine mehr. Obwohl das ein durchaus heikles Thema ist, hat sie gemeinsam mit ihren Schwestern darüber gelacht. Die Vorstellung, wie die anderen Familienmitglieder mit Glatze aussähen, war dann doch zu komisch. „Die Schwestern sind ein eingespieltes Team, nehmen auf Dorothea aber anders Rücksicht, als wenn sie nur unter sich sind bzw. sie die Krankheit nicht hätte“, stellt Corina fest.

Wie in anderen Familien auch, nervt die Jüngste die Älteren manchmal gehörig, das bekommt Dorothea dann auch zu spüren. Corina: „Auslöser sind in der Regel ganz normale Scherereien, wie sie Teenager untereinander so haben: Alles wird beredet, die Jüngste kann altersbedingt nicht immer mithalten und gibt dann Kommentare ab, die unpassend sind.“ Derzeit geht es Dorothea gut und sie war sogar schon wieder in der Schule. Die Zehnjährige besucht die 3. Klasse einer Fördergrundschule im Rhein-Sieg-Kreis, was sehr dabei hilft, den Familienalltag so normal wie möglich zu gestalten.

Mit einem schwerkranken Kind ändert sich das Familienleben komplett. „Mal kurz ein Eis essen gehen oder eine Radtour machen, solche Aktivitäten waren gemeinsam plötzlich nicht mehr möglich. Wir mussten und müssen auch heute noch unsere Pläne an Dorotheas tagesaktuellen Zustand anpassen und sehr flexibel sein“, erläutert Felix. Als Folge des Hirntumors hat seine Tochter eine Gehbehinderung und Gleichgewichtsstörungen. Für weite Strecken fehlt ihr auch die Ausdauer und sie braucht einen Rollstuhl. Ein Ausflug muss wegen der Barrierefreiheit stets gut geplant werden.

Damals wie heute müssen die Eltern gucken, welche Tochter ihre Zuwendung gerade am meisten braucht. Corina arbeitet stundenweise als Physiotherapeutin. Der Job ist wichtig für sie als Ausgleich zum Familienleben. „Vier Kinder können manchmal ganz schön anstrengend sein. Hat eines der Mädchen zum Beispiel Stress in der Schule, kümmere ich mich um sie, obwohl der Kühlschrank leer ist und ich fürs Abendessen dringend hätte Einkaufen fahren müssen. Dann wird eben erstmal geredet und später eine Pizza bestellt. Dadurch dass mein Mann im Süddeutschen arbeitet, bin ich derzeit die wichtigste Bezugsperson, auch wenn die Schwestern sich untereinander viel austauschen und gegenseitig unterstützen“, erzählt Corina. Genau dieser Zusammenhalt ist es, der der Familie jeden Tag aufs Neue hilft, mit Herausforderungen umzugehen. Manchmal lässt es sich nicht ändern, dass die Schwestern etwas im Hintergrund stehen, doch Dorotheas Krebserkrankung ist im Verlauf der Zeit auch zu einem Stück weit Alltag und Normalität geworden. Es gibt immer mal wieder Frust bei den Mädchen, wenn eine Therapie ansteht. Daher ist es gut, wenn die Behandlung ambulant erfolgen kann und Corina nicht zu lange Zuhause fehlt. „Wenn ich eine Empfehlung an andere Familien mit einem schwer oder chronisch kranken Kind habe ist es die: Redet viel und offen miteinander und macht kein Geheimnis aus der Krankheit. So können die Geschwister besser verstehen, warum die kranke Schwester oder der kranke Bruder in bestimmten Phasen mehr Aufmerksamkeit bekommen und fühlen sich nicht so vernachlässigt.“